Horizont

Horizont
Photo by Pavel Homenko / Unsplash

Am Horizont geht die Sonne unter. Ich bin aufgeregt. Nicht ängstlich, sondern voller Vorfreude. Ich bin gespannt, was mich erwartet und ich bin gespannt, wer mich erwartet. Ein wohlig warmes Gefühl durchströmt meinen Körper, von meinem Herzen ausgehend fließt es wie Gift durch jede Ader und zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen. Ich schließe die Augen und kann den Frieden, die Ruhe, die Erlösung schon spüren, obwohl meine nackten Füße noch auf den kalten Steinen der Brüstung verweilen.

Es geht nicht mehr. Wie soll ein Mensch das ertragen? Es wird schon alles wieder gut, nimm eine Tablette hiervon, atme vier Sekunden tief ein und sechs Sekunden langsam aus, hör Meditationsmusik, geh spazieren, lauf barfuß über den kalten Hof, notiere dein Spannungslevel, reibe deine Schläfen mit Pfefferminzöl ein, diskutiere keinen Streit, sondern male ihn auf und dann... Dann wird alles wieder gut. Dann wird alles gut, ohne wieder. Denn es war noch nie alles gut und es wird auch nie alles gut werden.

Mein Herz, hast du noch ein letztes Wort zu sagen? Willst du mich noch vor etwas warnen, das gar nicht existiert? Willst du mich noch ein letztes Mal in den Wahnsinn treiben, bis mir die Angstperlen auf der Stirn stehen, mein ganzer Körper zittert, meine Eingeweide verbrennen und ich um Hilfe flehe? Los, hier ist deine letzte Chance. Danach verlass ich dich. Dich und all die gruseligen Gedanken, die mich seit frühester Kindheit begleiten. Die mich zum heulen bringen, zum verzweifeln, die mir seit jeher Schmerzen zufügen und die dazu führten, dass ich jetzt mit nackten Füßen auf den kalten Steinen dieser Brüstung stehe.

Wirst du auf mich warten, Papa? Wirst du mich in deine Arme schließen und mich nie wieder loslassen?

Ich breite die Arme aus, schaue noch einmal zur untergehenden Sonne am Horizont und bin glücklich. Gleich bin ich bei dir, Papa, nur ein letzter Schritt und wir sind wieder vereint. Ich schließe meine Augen und lasse mich fallen. Ich bin immer noch glücklich und lächle und falle meinem langersehnten Frieden entgegen.